Anliegen des Kunden: „Strategietagung“
Schon drei Mal haben wir als Berater die jährliche Strategietagung eines produzierenden Unternehmens moderiert. Jetzt steht der nächste Termin an. Auftraggeber ist der Geschäftsführer einer Niederlassung, Teilnehmer sind er selbst und seine Bereichsleiter. Zwei Wochen vor der Tagung fahre ich ins Werk, um die Details des Workshops zu besprechen. Schon bei der Ankunft nehme ich eine veränderte Stimmung wahr. Statt des erwarten Geschäftsführers begrüßt mich die Personalleiterin.
Auf meine direkte Frage, was denn los sei, antwortet sie zunächst mit Schweigen, dann sagt sie, es sei etwas passiert, aber sie wüsste nicht, ob sie mir etwas davon sagen dürfe. Darauf hin beginnt sie hemmungslos zu weinen. Sie erzählt sichtlich erschüttert, dass der Geschäftsführer fristlos entlassen worden sei, weil er diverser Verletzungen der Compliance Regeln, des Machtmissbrauchs und der Unterschlagung überführt worden sei. Einer der Mitarbeiter hätte es an der örtlichen Führung vorbei der Konzernspitze gemeldet und bei einer internen Untersuchung hätte man bewiesen, dass dies über zehn Jahre lang gelaufen sei. Die offizielle Version laute, dass er aus gesundheitlichen Gründen das Unternehmen verlassen hat.
Auftragsklärung
Die Strategietagung soll trotzdem stattfinden, das Geschäft müsse weitergehen, und die Bereichsleiter müssten das jetzt erst einmal ohne Geschäftsführer hinkriegen. Allerdings lege der Konzern größten Wert darauf, dass über die wirklichen Gründe Stillschweigen zu wahren sei. Auf der dreistündigen Heimfahrt wird mir immer klarer, dass Stillschweigen keine Option sein kann. Ich selbst befinde mich auf einer emotionalen Achterbahn zwischen Ungläubigkeit, Wut, Schuldgefühlen, Mitleid, Unsicherheit, Trauer, Angst, aber auch Spannung, Neugierde und einer gewissen „Sensationslust“. Wenn es mir schon so geht, wie mag es erst den Bereichsleitern gehen? Wie sollen wir über Strategie sprechen, wenn jeden Teilnehmer ganz andere Dinge bewegen?
Mein Kollege und ich führen einen langen Dialog mit dem CEO, der daraufhin dem Kompromiss zustimmt, dass wir in Einzelgesprächen vor dem Workshop herausfinden dürfen, ob das Geheimnis wirklich „geheim“ ist. Allerdings vereinbaren wir das Thema nicht aktiv anzusprechen, sondern abzuwarten, was die Bereichsleiter uns erzählen. Dann sollen wir den Workshop so durchführen, wie wir es für geboten halten. Das „Kommunikations-Tabu“ ist und die Fragen, die uns bewegen. Hätten wir als geschulte Berater etwas merken müssen? Es folgt langes Schweigen. Dann beginnt die Personalleiterin über sich zu sprechen und bereitet damit den Boden für einen offenen Austausch.
Nach und nach erzählt jeder, zum Teil unter Tränen, wie es ihm geht. Da es sich bis auf die Personalleiterin nur um Männer handelt, fällt dies besonders schwer. Wir Berater lassen Pausen zu und laden immer wieder dazu ein, Gedanken und Gefühle zu teilen, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir ermutigen und erklären, dass alles sein darf, was ist. Und dass es auch völlig okay ist, nichts zu sagen. Am Ende des Tages scheint alles ausgesprochen, alle sind erschöpft. Am zweiten Tag ist die Stimmung entspannter. Wir reflektieren, was es für das Team bedeutet, dass alle „die Hosen runter gelassen haben“ und wie das jetzt wirkt. Wir liefern ein wenig Theorie zu den Themen Vertrauen/Misstrauen, Autonomie/Anpassung, Führen/Folgen etc. nach, weil Verstehen die subjektiv empfundene Kontrolle zurückgeben kann.
Beratungsergebnis
Monate später berichten die Bereichsleiter, wir hätten an diesen Tagen den „Verbrecher“ endgültig beerdigt, er sei kein Thema mehr und die Zusammenarbeit im Unternehmen sei offener, achtsamer und konstruktiver. Gleichzeitig seien alle kritischer geworden und man hinterfrage jetzt vieles, was früher einfach hingenommen worden sei. Man habe gelernt, wie wichtig es ist, Dinge, die alle betreffen auch zu benennen. Gleichzeitig sei der Prozess eine extrem schmerzhafte Erfahrung gewesen, die alle an Grenzen gebracht und viel Überwindung gekostet hätte. Es sei aber eine Lernerfahrung „fürs Leben“ gewesen.
Theoretische Einordnung
„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Diese Devise wäre dem Unternehmen verständlicherweise willkommen gewesen. In diesem Fall aber hatte jedes Teammitglied Teilwissen, kannte diverse Gerüchte oder Fakten und fühlte sich eigenen Fantasien machtlos ausgeliefert. Die Teilnehmer beschuldigten sich selbst oder andere und schämten sich gleichzeitig dafür, dass sie jemanden beschuldigten. Auf diese Weise entstehen unfruchtbare innere Dialoge, das Vertrauen in die eigene Kompetenz schwindet und Misstrauen breitet sich immer mehr aus. Aus Scham hatte sich jeder auf seine ganz eigene Weise in Isolation begeben, war mit Kollegen sowie zum Teil auch mit den eigenen Partnern und Freunden aus dem Kontakt gegangen.
Schweigen und Stillschweigen über das Schweigen hatte sich ausgebreitet, war aber bei jedem ständig präsent. Scham und Schuldgefühle gehören zu den unangenehmsten Empfindungen, die Menschen haben können. Unangenehme Gefühle werden aber abgemildert, wenn sie geteilt und nicht negativ beurteilt werden und wenn man sie sich erklären kann.
Unser Beratungsansatz war daher, den Teilnehmern einen geschützten Raum anzubieten, in dem sie unter Wahrung ihrer persönlichen Grenzen die Geschehnisse reflektieren, ihre Gefühle zueinander in Beziehung setzen und Mitgefühl füreinander entwickeln konnten. Das implizit viel Raum einnehmende Thema durfte explizit werden. Durch den Austausch konnte wieder Realität einkehren und Handeln besprochen werden. Was ist tatsächlich geschehen, welche Auswirkung hat das auf unsere Strategie und wie sorgen wir für guten vertrauensvollen Kontakt miteinander? Der gemeinsame Beschluss, diese Themen offen zu besprechen und gemeinsam zu reflektieren und zu verstehen, trug zur Entlastung bei.
Disclaimer: Um unsere Klienten und Kunden zu schützen und ihre Privatsphäre zu wahren, werden an dieser Stelle keine echten Namen verwendet und auf Bezeichnungen von Unternehmen und Branchen verzichtet. Die Fälle sind jedoch real und haben sich so zugespielt.
Erfahren Sie mehr zum Thema Leitprozess Teamreflexion aus der Metatheorie der Veränderung.
Mehr zu › Teamcoaching
Sehr spannender Fall, danke für die hilfreichen Denkanstöße zu diesem wichtigen Thema!